Es ist gute Tradition in diesem Blog, dass ich den ausführlichen Jahresbericht des Weinguts Wagner-Stempel hier veröffentliche. Nach den Podcast-Gesprächen mit Daniel Wagner, gibt der von Daniel und Oliver Müller verfasste Bericht noch mal einen eigenen Blick auf den Jahresverlauf und das Besondere, das 2020 ausmacht:
Vielleicht ist es eingangs einmal angebracht, auf einen ganz grundsätzlichen Aspekt des mitteleuropäischen Klimas zu verweisen. Als eine Art Orientierung und Bezugsrahmen kann dies für die weitere Schilderung des Weinjahres 2020 einen kontrastreichen Blick auf die vergangenen zehn Monate werfen.
Die Landeshauptstadt Mainz liegt exakt auf dem 50. Grad nördlicher Breite, und das rheinhessische Umland und ebenfalls Siefersheim an der äußersten Westgrenze des Anbaugebiets befinden sich größtenteils nur knapp darunter. Wenn man diese Lage ganz spielerisch einmal auf die Südhalbkugel spiegelt, bekommt man vielleicht ein kleines Gespür für die außergewöhnliche Situation des deutschen Weinbaus wie auch des mitteleuropäischen Klimas insgesamt. Denn auf der Südhalbkugel hat man auf dieser Position bereits das „Kap der guten Hoffnung“ weit hinter sich gelassen, Tasmanien hat sich ebenfalls schon verabschiedet, und die einzige Landmasse, die noch greifbar ist, wäre die Südspitze Amerikas am Kap Hoorn. Ein Ort, der nicht nur unter Seeleuten für sein raues, unwirtliches und beinahe menschenfeindliches Klima bekannt ist.
Mainz hingegen wird in der Fachliteratur der kühlgemäßigten Klimazone zugeordnet. Mit mindestens vier warmen Monaten mit einer Durchschnittstemperatur von über 10 °C, und auch der kälteste Monat des Winters liegt im Mittel über dem Gefrierpunkt. Ganz charakteristisch sind insbesondere die dominierenden Westwindströmungen, die zu allen Jahreszeiten relativ gleichmäßig verteilte Niederschläge mit sich bringen. Ein typisches Klima der mittleren Breiten. Gemäßigt, mild und ganzjährig Regen. Das ist der grobe Rahmen. Das Jahr 2020 hat diesen wieder einmal in Teilen„gesprengt“. Wie genau und was das für den Weinbau in Siefersheim bedeutet hat, darum geht es im Folgenden.
Das Jahr begann wie schon so viele andere in der zurückliegenden Dekade ausgesprochen mild. Man mag kaum noch von einem „wirklichen Winter“ sprechen. Bereits Mitte März häuften sich viele angenehme Tage mit Temperaturen oberhalb von 10 °C und zahlreichen Sonnenstunden. Die Natur erwachte, und im April konnte bereits ein neuerlicher Wetterrekord verzeichnet werden. Insgesamt 316 Sonnenstunden und gerade einmal 9 Liter Niederschlag wurden für den Monat notiert. Der „launische April“ mit seinem oft so wechselhaften Wetter hatte einen Vorgeschmack auf den Sommer gegeben. Das Ausbleiben der Westwinde und eine über Wochen konstante Hochdruckwetterlage hatten einen Frühling im „Sommermodus“ zur Folge.
Der Austrieb der Reben Mitte April und damit rund 10 Tage vor dem langjährigen Mittel war die logische Folge. Das frühsommerliche Wetter setzte sich auch im Mai fort und eine Wachstumsperiode mit Bilderbuchcharakter begleitete uns bei den Arbeiten im Weinberg. Erst beim Blütebeginn Anfang Juni setzte wieder wechselhafte und regnerische Witterung ein mit teilweise ergiebigen Niederschlägen. Die Blüte verlief daher sehr inhomogen mit partiell starken Verrieselungen, und war abhängig von Lage und Topographie erst Ende Juni vollständig abgeschlossen. Man jongliert in der Folge immer ein wenig mit den Zahlen und dem möglichen Reifeverlauf, aber so ungefähr schwebte uns im Sommer ein Lesezeitfenster Mitte September bis Mitte Oktober vor. Kein ausgesprochen „kühles Jahr“ war demnach zu erwarten, aber ebenfalls auch kein besonders „warmes Jahr“.
Der weitere Verlauf im Juli brachte die ersten hochsommerlichen Tage mit sich, und nur vereinzelt gab es geringe Niederschläge. Unsere alljährliche Ertragsregulierung konnten wir bei besten Bedingungen vornehmen, und unter dem Eindruck des fortwährend heißen Wetters gingen wir bei den Entlaubungsarbeiten etwas defensiver als in den vergangenen Jahren vor. Der Zustand und die Vitalität der Weinberge auch angesichts der gängigen Pilzkrankheiten waren zu diesem Zeitpunkt großartig. Die Wasserversorgung der Reben wie auch der Begrünungen war aufgrund der hohen Regenmengen im Juni überaus entspannt. Es sah bereits Mitte des Jahres sehr vital und vielversprechend aus.
Im August häuften sich die wirklich heißen Tage des diesjährigen Sommers, und Siefersheim hatte in mehrfacher Hinsicht Glück in diesem Abschnitt des Jahres. Nicht nur, dass alle Weinberge von Hagelschlag, Sonnenbrand und anderen Schäden weitestgehend verschont blieben, auch die häufigen Gewitter brachten in Siefersheim ausreichende Regenmengen mit sich, und am Ende des Monats waren in der Summe bereits mehr als 60 Liter Wasser pro Quadratmeter zu verzeichnen. Ein stattliches Polster für die weitere Ausreifung im September, denn wie auf Knopfdruck setzte sich mit dem Beginn des neuen Monats konstantes Hochdruckwetter mit viel Sonnenschein und umlaufenden Winden durch.
Es erschien wie eine „Spiegelung des Aprils“ in der zweiten Jahreshälfte. Keine Westwinde mehr dafür beinahe vier Wochen lang Sonne, Wärme und Trockenheit. Und dies in der finalen Ausreifungsphase der Trauben. Auf der einen Seite könnte man es sich nicht besser wünschen. Auf der anderen Seite wäre diese Periode ohne die ausreichenden Niederschläge des Vormonats auf den felsigen und kargen Böden um Siefersheim eine ganz schwierige Bewährungsprobe für die Vitalität der Reben geworden. Aber unter den gegebenen Verhältnissen konnten wir in allergrößter Ruhe und Entspanntheit einem fast idealtypischen Ausreifen der Trauben zuschauen. Ohne Fäulnisprobleme, ohne Trockenstress und Wassermangel oder anderen Sorgen. Die einzig bange Frage war: „Wie lange würde dieses Wetter so halten und bräuchten wir danach wieder Regenschirme und Gummistiefel wie im Jahr zuvor?“
Die Lese startete mit partiellen Vorlesen für Sektgrundweine und Rosé in der zweiten Septemberwoche, und am 14. September begann unter sommerlichen Bedingungen die eigentliche Hauptlese des Jahrgangs 2020. Rund eine Woche früher als im Jahr zuvor. Den Burgundersorten hatte die warme und sonnige Witterung überaus gutgetan, und wir konnten in der Folge geradezu mustergültige rote und weiße Trauben lesen. Kerngesund, perfekt ausgereift und aufgrund der trockenen, warmen Wochen zuvor auffallend kleinbeerig. Einziger Wermutstropfen war die vergleichsweise geringe Menge bei den Burgundern. Auch die Silvaner waren vor dem Hintergrund moderater Erträge und der perfekten Bedingungen von hervorragender Qualität. Besonders in der letzten Septemberwoche konnten wir so schöne Silvanertrauben lesen wie schon lange nicht mehr.
Das grandiose Finale in 2020 aber war wie so oft dem Riesling vorbehalten, den wir insbesondere in den ersten beiden Oktoberwochen in bestechender Qualität lesen konnten. Das Wetter hatte sich gegen Ende September zusehends verschlechtert, die Regenmengen blieben überschaubar und die Temperaturen waren vergleichsweise niedrig. Keine Gefahr und kein Grund zur Sorge aus unserer Sicht, sondern Bedingungen, um die Verhältnisse ein wenig an die Grenze zu führen – auszureizen wie wir sagen. Die Trauben sollten nicht nur analytisch bezüglich des Säuregehalts und der Zuckerkonzentration nahezu perfekt gelesen werden, sondern auch physiologisch wollten wir notfalls solange warten, bis der Riesling durch die ersten knackig kalten Nächte seinen finalen „Reifeschub“ bekam. Mit den ersten Inversionswetterlagen Anfang Oktober war dies geschehen, und am Freitag den 9. Oktober war die Lese 2020 nahezu abgeschlossen. Gerade einmal zwei Tage früher als im Jahr zuvor.
Im Jahrgang 2019 mussten wir vor dem Hintergrund der äußerst schwierigen Verhältnisse während der Weinlese um jedes Ergebnis, um jeden Eimer guter, gesunder Trauben kämpfen und waren uns nach beinahe drei Wochen ununterbrochener Herbsttätigkeit noch gar nicht so sicher wie gut das Ergebnis wohl ausfallen würde. 2020 kann vor diesem Hintergrund beinahe als Traumjahr bezeichnet werden.
Alle Trauben über alle Rebsorten hinweg waren von überaus hoher Qualität. Kerngesund, nahezu perfekt ausgereift und ebenfalls analytisch stimmten alle Parameter. Oechslegrade zwischen 86 und 96 korrelierten mit Mostsäuren von 6,5 bis 9,5 g pro Liter – und das alles bei den für Siefersheim so typisch niedrigen pH-Werten. Winzerherz was willst du mehr?
Kann man 2020 in Siefersheim auf eine kurze, griffige Formel bringen? Wie schon in all den Jahren zuvor bemerkt, wird man der Sache Weinbau und Wein mit Pauschalurteilen nie gerecht. Auch nicht in 2020. Aber der Jahrgang hier in Siefersheim erscheint derzeit wie der „beständigere Bruder von 2019“ – mit einigen frappierenden Parallelen, aber auch verschiedenen markanten Differenzen. Die Ertragslage insgesamt war wie im Vorjahr eher unterdurchschnittlich. Die Qualität indes verspricht sehr gut oder gar außerordentlich zu werden. Einen Tick reifer als der Vorgänger und eine Nuance weniger Säure, aber auch einen Ton klarer, reiner und feiner.
Schon jetzt zeichnet sich ab, dass die Weine enorme Spannung, Dichte und Konzentration mitbringen werden, und gleichzeitig bestechen die ersten Proben mit einer erstaunlichen Klarheit, Präzision und Finesse. Wir werden vielleicht gar nicht so weit vom Charakter des Vorjahres entfernt sein, aber deutliche Differenzen zu den Jahren 2018 oder auch 2011 wahrnehmen können. Warten wir es ab. Die Formel vom nächsten sehr guten Jahrgang nutzt sich kraft seiner immer häufigeren Benutzung in den letzten Jahren zwar immer weiter ab. Aber was soll man anderes tun und formulieren, wenn einem das Glück widerfährt, ein weiteres Mal so gute Ernteergebnisse im Keller zu haben. Wir freuen uns auf die kommenden Monate und auf einen wahrlich spannenden Jahrgang 2020.
von Daniel Wagner und Oliver Müller