Was macht eigentlich ein richtiges gutes Essen aus? Nicht nur ein gutes, sondern eines von denen, die man im Zweifel sein Leben lang nicht vergisst? Dafür hat natürlich jeder seinen eigenen Maßstab. Auf einige Punkte können sich sicher alle einigen: allerbeste Grundprodukte, ein gekonntes Küchenhandwerk, punktgenaue Garung, ein freundlicher und herzlicher Service. Aber dann gehen die Meinungen schon auseinander. Ist Kreativität wichtig? Welchen Stellenwert hat eine gute Weinkarte? Braucht der Koch seine eigene Handschrift? Muss ein gutes Essen eine regionale Identität haben und aus Produkten en saison gekocht werden?
Es ist erstaunlich, wie unterschiedlich das bevölkerungsreichste Land Europas an diese Fragen herangeht. In der Hochküche gibt es vor allem die Köche, die sich an der französischen Hochküche orientieren (z.B. Wohlfahrt, Tieltges, Haas) und diejenigen, für die Kreativität und eine eigene Handschrift und vor allem Technik die Hauptrolle zu spielen scheinen (z.B. Fehling, Schnurr, Wissler). Seit kurzem gibt es auch ein Restaurant, dass sich à la Noma auf die dogmatisch regionale Küche spezialisiert hat (Nobelhart & Schmutzig) und mit der Zeit wird es sicher Nachahmer geben. In den meisten Fällen gilt: der Star ist der Koch.
In Frankreich ist das anders. Der Star ist dort häufig zuerst das Haus und danach erst der Koch. Ob nun Jean & Pierre Troisgros in Roanne kochen oder Michel Troisgros, das Haus ist das Troisgros. Natürlich gibt es Veränderungen, aber das Haus heißt Troisgros. Das Gleiche gilt für Paul und Marc Haeberlin und die Auberge de l’Ill. Der Saumon à l’Oseille steht im Troisgros immer noch auf der Karte, der Saumon Soufflé oder der Homard Prince Vladimir immer noch auf der Karte in der Auberge de l’Ill. Als Bernard Loiseau, einer der Begründer der Nouvelle Cuisine, sich im Jahr 2003 das Leben nahm, starb das Relais Bernard Loiseau nicht etwa ebenfalls, sondern es übernahm der Sous-Chef und serviert auch heute noch die Jambonnettes de grenouilles à la purée d’ail et au jus de persil, die im Übrigen heute noch so köstlich sind wie sie mutmaßlich auch schon in den 80er Jahren köstlich waren.
Die Franzosen sind besonders gut darin, etwas Bleibendes über den Menschen zu stellen. Unvergessen ist die Szene aus dem Film „Mondovino“, als Hubert de Montille über den Taillepieds Weinberg in Volnay spricht. Ein Taillepieds bleibt immer ein Taillepieds, ob er nun von Hubert de Montille oder Etienne de Montille erzeugt wird, der Weinberg ist zehn Mal wichtiger als der Produzent.
In Arbois, der schönsten Kleinstadt Ostfrankreichs gab es vor kurzem wieder ein schönes Beispiel für die „das Haus zuerst“ Maxime zu bestaunen. Jean-Paul Jeunet, eine Legende der Jura-Küche nahm seinen Abschied aus dem ehrwürdigen Haus Jeunet. Jean-Paul Jeunet hatte 1988 die Verantwortung über das gleichnamige Hotel und Restaurant in Arbois von seinem Vater André Jeunet übernommen. Anders als sein Vater hatte Jean-Paul Jeunet keine Kinder, die das Haus weiterführen wollten, aber einen Sous-Chef namens Steven Naessens, einen Belgier, der seit 2009 neben Jean-Paul Jeunet kochte. Seit Anfang 2016 führt Steven Naessens das Haus Jeunet mit seiner Frau. Es heißt jetzt aber nicht „Restaurant Steven Naessens“, sondern natürlich Maison Jeunet und gekocht wird nicht belgisch, sondern die klassische Jura-Küche der Jeunets, allenfalls dezent weiterentwickelt.
Das führt zurück zu der Frage, was eigentlich eine mehr als nur ausgezeichnete Küche ausmacht. Für mich ist ein unverzichtbares Element eine Identität, die in der Region geerdet ist und die sich entlang der Jahreszeiten weiterentwickelt, kurzum eine Küche, die es so nur an einem speziellen Ort geben kann. Dafür muss gar kein Dogma befolgt werden, nach dem alle Zutaten aus einem Umkreis von x Kilometern um das Restaurant kommen müssen. Es reicht schon, wenn der Kern der Küche und die Hauptzutaten regional verwurzelt sind.
Auf der anderen Seite des Spektrums ist es schwer, sich an einer Küche festzuhalten, wie sie z.B. im Falco in Leipzig oder im The Table in Hamburg serviert wird. Sicher arbeitet diese Küche mit hervorragenden Produkten – Geflügel von Miéral aus der Bresse, bretonischer Hummer, Wagyu-Rind, etc. Aber wenn ein Gang japanisch inspiriert ist, der nächste Mahgreb-inspiriert und schließlich noch einer in der klassischen deutschen Küche verankert ist, dann kann ein solches Menü noch so gut schmecken und voller unerwarteter Geschmackserlebnisse sein, das magische Moment der Vereinigung von regionaler Identität, Tradition, der Landschaft und der lokalen Weine dazu kann nur die Landküche bieten.
Der französische Jura ist eine Region, die genau diese magische Vereinigung bieten kann. Sie ist eine klassische kontinentale Region, in der die Produkte von den Wiesen, aus den Wäldern und aus den Flüssen und Seen kommt. Gemüse, Kräuter, Fluss- und Seefische, Flusskrebse, Geflügel aus der Bresse, Rinder (v.a. von der Montbéliard Rasse), Schweine, Wild, Würste, Pilze, vor allem Morcheln, und natürlich Käse bilden die Basis, mit der ein Koch im Jura arbeiten kann. Hinzu kommen natürlich die Getränke aus dem Jura, die alles abdecken, was ein Sommelier zur Begleitung dieser Küche braucht. Der Jura ist das kleinste französische Weinbaugebiet und bietet trotzdem eine größere Vielfalt als viele deutlich größere Weinbaugebiete. Crémants zum Apéritif, mit dem Savagnin einen der besten Begleiter weltweit zur Gemüseküche, Chardonnay als Universalweißwein, leichte Rotweine aus Pinot Noir und Poulsard, etwas gehaltvollere Rotweine aus Trousseau, klassische Süßweine (Vin de Paille, auch als Strohwein bekannt, und der dem Portwein nicht unähnliche Likörwein Macvin, der aus Traubensaft und Marc hergestellt wird). Und natürlich die oxidativen Weißweine, die unter Hefeflor reifen und aus Chardonnay und/oder Savagnin erzeugt werden, mit dem Vin Jaune als Königsklasse. Und dann dem Absinth als Digestif.
Im Maison Jeunet kommt alles oben Gesagte zusammen. Ein Traditionshaus, Menschen, die die Tradition respektieren, eine in der Region verwurzelte Küche, jahrelange Beziehungen zu Lieferanten und der Magic Touch, der all das auf eine höhere Stufe hebt. Beim Eintritt in den Speisesaal fühlt man sich allerdings nicht gleich auf Anhieb wohl, die hohen Decken erinnern an Restaurants in Pariser Grand Hotels, der sparsam dekorierte und dezent Zen-artig modern eingerichtete Saal verspricht eher Ruhe als Gemütlichkeit. Erst ein paar später auffallende Details lassen einen eintauchen in die Jeunet-Welt: ein knackender Kamin, die im Laufe des Abends immer besser werdende Stimmung an den Tischen und der geschäftige, unprätentiöse und sehr herzliche Service.
Alleine einen Besuch wert ist die Weinkarte des Maison Jeunet. Hier fehlt kaum ein großer Name aus dem Jura und viele Weine sind in beeindruckender Jahrgangstiefe zu haben. Die Jeunets und ihre Sommeliers waren schon immer große Anhänger des Naturweins und so ist es kein Wunder, dass von Overnoy/Houillon über Ganevat bis zur Domaine des Cavarrodes so ziemlich alles vertreten ist, was der biodynamische und schwefelarme bzw. schwefelfreie Weinbau im Jura zu bieten hat. Dementsprechend fällt die Auswahl natürlich enorm schwer. Ein gereifter Vin Jaune von Jacques Puffeney oder Jean Macle, ein gereifter oxidativer Savagnin oder Tradition oder doch etwas anderes? Der Sommelier macht es einem einfach und gibt einem klare Leitlinien. Kein Vin Jaune soll es sein, der sei zur delikaten Küche zu kräftig. Stattdessen empfiehlt er einen 1996 Arbois Pupillin Savagnin von Winzerlegende Pierre Overnoy und seinem spirituellen Sohn Emannuel Houillon.
Der Wein brennt im Laufe des Abends ein regelrechtes Feuerwerk ab, zeigt sich anfangs noch etwas schüchtern, mit Luft und Temperatur aber immer expressiver. Etwas Lagerapfel findet sich in der Nase, auch etwas Zitrone, vor allem aber enorm viel Erde und bräunliche Würze (wie ein arabisches Allspice-Gewürz) und als Extra noch etwas Orange Jam. Im Mund ist der Wein physisch fordernd, denn seine Säure lässt die Wangen erröten, regt den Speichelfluss an und verursacht Schnappatmung. Gepuffert wird diese brachiale Säure durch eine faszinierende Dichte und Explosivität am Gaumen, etwas Restfrucht (Apfel, Quitte und Orange) und eine hervorragende Stoffigkeit. Wer noch Zweifel an der Lagerfähigkeit ungeschwefelter Weine hat, sollte mal diesen Wein von zwei Könnern trinken.
Wie vom Sommelier angekündigt, begleitet der Wein das Essen sehr gut. Nach ein paar sehr guten Snacks, die nahezu alle schon irgendetwas mit dem Jura zu tun haben, folgt ein wunderbares leichtes Menü, das einer Leitlinie folgt: Produkte aus der Region, Kräuter und Gewürze, häufig leicht ätherische Geschmackskomponenten. Am ersten Gang – Filets de Perche à l’Huile d’Aneth, Fenouil Confit au Curcuma et émulsion Anisée – zeigt sich diese Leitlinie sehr schön. Filets vom Flussbarsch werden von einer ätherischen Sauce mit Anisaromen begleitet, die sich auch im Fenchel wiederfinden, der durch den Kurkuma allerdings eine abwechslungsreiche Note bekommt. Das ist geschmacklich komplex, aber nicht kompliziert, man findet sich auf dem Teller sofort zurecht. Zu einem solchen Gang kann der erdig-würzige Overnoy natürlich gleich seine Stärken ausspielen.
Weiter geht es mit Froschschenkeln mit jungem Knoblauch, Mandeln und Kräutern, ein Gang der gleichzeitig fein und rustikal schmeckt, die Aromen verschmelzen miteinander, trotzdem ist jeder einzelne Kräuter und der Knoblauch klar schmeckbar. Auch für diesen Gang wirkt der Overnoy Savagnin wie gemacht, schneidet mit seiner Säure das leicht Fettige der Froschschenkel klein. Ganz köstlich ist das Felchen aus dem Genfer See, das Naessens mit weißem Gänsefuß und kleinen, Radieschen ähnlichen Rübchen serviert. Das Felchen wird in Savagnin pochiert, ist butterzart und hat den leicht würzig-ätherischen Geschmack des Savagnin dezent angenommen. Dass auch zu diesem Gang der Overnoy Savagnin bestens passt, muss nicht erwähnt werden.
Eine einzigartige Kombination aus besten Produkten, Regionalität und guten Ideen zeichnet auch den Hauptgang aus, Carrée und Filet vom Milchlamm, das jeweils mit Bohnenkraut gewürzt ist und von einer Art Polenta aus dem Jura, die aus lokalem Maismehl hergestellt wird, und Zwiebeln begleitet wird. Bei diesem Gang streckt der Overnoy die Waffen, wirkt für das zarte Lamm doch etwas zu kräftig in der Säure. Auf den Käse wird im Maison Jeunet natürlich besonderen Wert gelegt. Anstatt 20 Sorten aufzutischen, gibt es nur eine kleine Auswahl umso besserer Käse, drei verschiedene Sorten Comté mit unterschiedlichen Reifegeraden, Morbier, Bleu de Gex.
Zum Dessert kombiniert Naessens rosa Pampelmuse mit Kardamom und einem Vin Jaune Schaum. Dieses Dessert fasst noch einmal zusammen, was an der Küche im Maison Jeunet so faszinierend ist. Es finden sich immer regionale Komponenten wieder (hier der Vin Jaune Schaum), Naessens arbeitet wie zuvor schon Jean-Paul Jeunet viel mit Kräutern und Gewürzen, deren Aromen sich in den Weinen des Jura auch erschmecken lassen und er ergänzt diese Grundformel mit nicht regionalen Zutaten, ohne dass der regionale Charakter des Tellers verloren geht. Das hat Charakter und zeigt eine unverwechselbare Identität.
Wenn man in Restaurants wie dem Maison Jeunet, dem Troisgros in Roanne oder bei Jean-Luc Rabanel in Arles gegessen hat, in denen kreativ, aber unkompliziert und vor allem mit klarer Identität gekocht wird, erscheinen die Küchen, in denen mit Spielereien wie Gänseleber-Lollis, Tupfern auf Baumrinde oder Desserts auf Flip-Flops zu punkten versucht wird, umso bizarrer. Ein Umdenken weg vom Effekt und hin zum Geschmack flackert zwar hier und da auf, aber bis sich in Deutschland auf breiter Basis eine handwerklich in der Weltklasse spielende Küche mit klarer regionaler Identität durchsetzt, werden wohl noch ein paar Jahre ins Land gehen.
Vielen Dank für den schönen Artikel! Nach meiner Einschätzung besteht hier der große Unterschied zwischen F und D darin, dass sich die Hochküche in F mehr oder weniger natürlich/organisch aus den verschiedenen Regionalküchen entwickelt hat. Von unten nach oben sozusagen. In D dagegen ist die Entwicklung der letzten Jahrzehnte eine von oben nach unten: Qualitätsanspruch, Produktküche, Regionalität – das alles wurde zunächst in der Spitzenküche etabliert und sickert nun mühsam und mit unterschiedlichem Erfolg nach unten. Erschwert noch dadurch, dass die Mitte immer stärker wegbricht und in der unteren Mittelklasse dann avancierte Konzepte häufig nur noch als Karikatur ankommen.
… Ach so, ein Mal Korinthen: Thieltges, nicht Tieltges.
Hallo Guido,
sehr schlüssig und leider muss ich dir beipflichten.
Schöner Artikel Christoph, macht Lust auf eine Inspiration dort vor Ort.
Danke, aber die Blumen bekommt Stephan Bauer.
Danke für den schönen Artikel. Ich war im April in Arbois und habe mich in das/den? Jura verliebt. Dort gibt es noch eine Wein und Speisen Kultur, wie man sie auch in Frankreich nicht mehr oft findet. Eine Flasche Houillon- Overnoy habe ich noch nicht gefunden 🙂