Alles braucht seine Zeit – die Entwicklung großer Weine ganz sicher. Doch auch die Entwicklung einer neuen Art von Wein geht lange Wege. Das kann man in Deutschland bei den Großen Gewächsen beobachten. Die Großen Gewächse sind die Antwort des Verbandes Deutscher Prädikatsweingüter (VDP) auf das große Wirrwarr des deutschen Weingesetzes inklusive seiner Bindung von Qualitätsstufen an Oechsle-Grade. Die Großen Gewächse (VDP.Große Lage® heißt es eigentlich) sind die Spitze der Qualitätspyramide nach burgundischem Vorbild mit Gutswein, Ortswein, Erster Lage und Großer Lage. Die »Große Gewächse« genannten Spitzenweine sind dabei von der Qualität alter Prägung her trockene Auslesen.
Die Anfänge dieser Überlegungen reichen in die 1980er Jahre zurück. 1993 forderte der VDP zusammen mit der Union des Grand Crus de Bordeaux im Straßburger Manifest eine europäische Regelung zur Einführung und Sicherung regionaler Ursprungsbezeichnungen und Klassifizierungen. 1996 veröffentlichte der VDP ein Manifest, in dem der deutsche Gesetzgeber aufgefordert wurde, eine offizielle Lagenklassifikation einzuführen. Ein Jahr später bereits veröffentlichten die Pfälzer Weingüter Dr. Bürklin-Wolf, Christmann, Koehler-Ruprecht und Georg Mosbacher eine gemeinsame Erklärung, in der sie Kriterien für trockene Rieslinge aus Spitzenlagen formulierten. Ein weiteres Jahr später, im Jahr 1998, beschloss der VDP »die Klassifikation von Herkünften, Gewächsen oder Gütern, je nach regionalen Gegeben- und Besonderheiten«. Sie sollte langfristig wiedererkennbare Weine höchster Qualität mit einer festen Weinprogrammatik als international vergleichbare Grand Crus schaffen, Weine, die durch Herkunft, Rebsorte und Geschmacksbild ein klares, hochklassiges Profil haben. Im Juli 2011 wurde diese Klassifizierung als Vier-Stufen-Modell verabschiedet. In der Basis der Qualitätspyramide wurden die Guts- und Ortsweine angesiedelt. Die dritte Stufe der Qualitätspyramide stellten die klassifizierten Lagenweine der ersten Gewächse, die vierte Stufe die Großen Gewächse dar. Ab diesem Zeitpunkt verwendeten VDP-Güter für ihre Weine nur noch Bezeichnungen mit einer besonderen Lagen- bzw. Herkunfts-Charakteristik. Jeder Regionalverein klassifizierte seine Lagen in Eigenverantwortung. In der dritten und höchsten Stufe der Qualitätspyramide fanden sich die Großen Gewächse. Für diese Spitzenweine wurden die Lagen nach Parzellen abgegrenzt. 2002 wurde schließlich das Statut für das VDP.Großes Gewächs® festgelegt, und die Pfälzer Mitglieder präsentierten in diesem Jahr erstmals gemeinsam in Berlin ihre Großen Gewächse aus trockenen Rieslingen und Burgundersorten. Der letzte bisherige offizielle Schritt erfolgte im Jahr 2012, als der Verband die dreistufige in eine vierstufige Pyramide veränderte, um dem Ortswein, der bisher mit dem Gutswein auf einer Ebene gesehen wurde, eine neue Bedeutung zukommen zu lassen. Des Weiteren grenzte man die Großen Lagen von den Ersten Lagen ab.
Das Große Gewächs ist 15 Jahre alt
Es hat innerhalb des VDP und vor allem in den regionalen Gruppierungen erbitterte Diskussionen über die Qualitätspyramide gegeben. Ein wichtiger Punkt dabei war, dass Weingüter aus einer Lage nur noch einen Wein klassifizieren lassen konnten. Wenn es also ein Großes Gewächs aus dem Kallstadter Saumagen gab, gab es keinen weiteren Wein mehr aus dieser Lage, zumindest keinen offiziellen. Ich nehme dieses Beispiel, weil Koehler-Ruprecht, dessen wichtigste Weine alle aus dem Kallstadter Saumagen stammen, vor allem auf Grund dieser Regelung aus dem Verband ausgeschieden ist. Immerhin werden in den besten Jahren bei Koehler-Ruprecht mehrere trockene Kabinette, Spätlesen und Auslesen erzeugt, die alle den Namen der Lage tragen. Das neue VDP-System hätte dies ad absurdum geführt. Doch Koehler-Ruprecht ist eine Ausnahme geblieben. Insgesamt hat sich die Pyramide durchgesetzt, auch wenn vor allem der Mittelbau mit den Ortsweinen schwächelt – obwohl ich gerade da sehr viel Potential sehe. Das Große Gewächs ist zu einem Begriff geworden, und es gibt da ein ansehnliches Maß an Qualität. Nur von dem, was ganz zu Anfang und auch später immer wieder propagiert wurde, nämlich auf Grand-Cru-Niveau zu sein, ist man meiner Ansicht nach allzu oft weit entfernt.
Mit der Klassifizierung der Lagen für Große Gewächse hat es sich der Verband nämlich meiner Ansicht nach etwas zu leicht gemacht, und das rächt sich im Laufe der Zeit; denn immerhin waren nach eigener Aussage Bordeaux und Burgund Vorbilder für die Klassifikation. Zwar gibt es in Bordeaux eine Reihe von Grand Crus, doch diese sind immerhin in unterschiedliche Klassen aufgeteilt (dazu muss man natürlich sagen, dass sich seit 1855 nichts mehr getan hat und dass diese Klassifikation so heute auch nicht mehr stattfinden würde und angepasst werden müsste). Der VDP ist mit seiner Klassifikation jedoch viel näher am Burgund. Auch dort gibt es den Gutswein (Bourgogne AC), den Ortswein (Village), den Premier Cru und den Grand Cru. Der feine Unterschied ist allerdings, dass es dort gerade einmal sieben Grand Crus im Chablis gibt, dazu neun in Gevrey-Chambertin, fünf in Morey-Saint-Denis, zwei in Chambolle-Musigny, einen in Vougeot, zwei in Flagey-Echézeaux, sechs in Vosne-Romanée sowie acht an der Côte de Beaune, und zwar rund um Corton und Montrachet. Meursault beispielsweise ist nicht Grand Cru, Meursault ist Premier Cru – neben einer dreistelligen Anzahl weiterer Lagen. In Deutschland dagegen wurden aus dem Jahr 2015 (Rotwein 2014) 578 Große Gewächse von 178 Weingütern aus 340 unterschiedlichen Lagen abgefüllt. Ich meine, dass hier die Verhältnismäßigkeit nicht mehr stimmt. Unter dieser Unwucht leidet das Renommee sowohl der Großen Gewächse als auch das der Ersten Gewächse; denn diese werden meiner Ansicht nach kaum noch wahrgenommen. Warum soll ich mich für das Erste Gewächs interessieren, wenn eh schon fast alles, was halbwegs gut zu sein scheint, als Großes Gewächs vermarktet wird? Man kann diese Unwucht jedes Jahr aufs Neue bei den Verkostungen der Großen Gewächse schmecken. Da sind neben einigen Top-Weinen auch immer jede Menge guter Weine dabei. Aber gut ist eben nicht Grand Cru. Und es liegt nicht immer nur an den Erzeugern – auch wenn es dort in manchen Betrieben sicher ein Qualitätsproblem und ein Zu-viel statt ein Etwas-weniger gibt. Doch es sind eben teilweise auch die Lagen, die nicht mehr leisten können. Und das kann man den Lagen nicht vorwerfen, man hätte sie eben nur stimmig einsortieren sollen.
Die Notwendigkeit einer Abgrenzung
Um sich von der Menge ein wenig besser abzugrenzen, gehen nun einige Weingüter dazu über, jene Weine, die sie selbst als die wahren Grand Crus bezeichnen, erst später auf den Markt zu bringen. Peter-Jakob Kühn hat vor drei Jahren damit begonnen, seine Spitzenweine Doosberg und Sankt Nikolaus ein Jahr lang auszusetzen und die Weine erst ein Jahr danach zu präsentieren. Bei Heymann-Löwenstein wurde das Große Gewächs Uhlen Roth Lay seit der ersten GG-Abfüllung 2011 nie mit den anderen Großen Gewächsen präsentiert, sondern Löwenstein hat dem Wein immer mehr Zeit gegönnt. Weshalb? Weil der Wein sie brauchte. Dieses Mehr-an-Zeit würde vielen Weinen sehr gut tun, vor allem aber jenen Spitzenweinen, die ihren Namen auch verdienen. Jetzt, wo der Stein ins Rollen gekommen ist und man auch bei der extrem guten Bewertung der Kühnschen Spätvorstellungen gemerkt hat, dass sich das auch in Bezug aufs Renommee lohnen dürfte, beginnen weitere Weingüter damit, Weine erst später zu veröffentlichen. Am 29. September 2017 haben die Weingüter Gut Hermannsberg, Dr. Bürklin-Wolf und Georg Breuer zu einem informellen Gespräch und Tasting zu diesem Thema eingeladen. Sie nennen diese Weine momentan Late Release, so ist es auch international weitgehend verständlich.
Late Release
Beim Gespräch über die Late Releases wurde natürlich schnell deutlich, dass die Weingüter schon länger über einen solchen Schritt nachgedacht haben. Bei Dr. Bürklin-Wolf war das spätestens 2006 der Fall, als das Forster Ungeheuer bei der Vorpremieren-Verkostung in Wiesbaden schlecht abschnitt. Der Wein war bei der Füllung einfach noch nicht fertig, und man hätte ihm gerne mehr Zeit gegönnt. Das unterstrich auch Karsten Peter vom Gut Hermannsberg. Dort war man es irgendwann leid, bei der Vorpremiere Ende August und bei dem offiziellen Verkaufsstart am 1. September unfertige Weine vorzustellen. Ähnlich sah es Theresa Breuer und merkte an, man habe zwar schon beim Vater und beim Großvater den Markt- und den Kundendruck gespürt, aber letztlich habe es gerade bei den besten Weinen nie eine Terminpflicht gegeben. Diese ist tatsächlich relativ neu und hat sowohl mit der frühen Prowein im März zu tun als auch mit der für Spitzenweine frühen Veröffentlichung im September.
Für ihren bekanntesten und wichtigsten Wein, den Schlossberg, sei das Late Release aus ökonomischen Gründen bisher nicht machbar, sagte Theresa Breuer. Daher werde sie diese Art der Veröffentlichung zunächst einmal mit dem Berg Roseneck starten. Dabei könne es gut sein, dass manche Jahrgänge früher und manche später veröffentlicht würden. Der 2008er Roseneck habe erst 2012 geschmeckt, sagte sie, und so werde sie ihre Weine demnächst auch erst später veröffentlichen – immer dann, wenn sie dazu bereit seien.
Durch das Mehr-an-Zeit verändert sich bei den Weingütern der gesamte Entstehungsprozess. So hätten die LR-Weine beim Gut Hermannsberg auch eine längere Maischestandzeit. Säure sei nicht allein entscheidend, sondern ebenso Gerbstoff und Phenole, so Karsten Peter. Dass die Weine andere sind und sich wirklich von vornherein anders präsentieren, kann man direkt schmecken, dafür bedarf es nicht einmal eines geübten Gaumens. Entscheidend wird sein, wie die Weine im Markt, beim Händler, beim Kunden und vor allem in der Gastronomie aufgenommen werden. Dabei ist der Umgang der Gastronomie mit Großen Gewächsen ohnehin sehr unterschiedlich, so Florian Richter, Sommelier im Kronenschlösschen in Eltville. Oft würden sie direkt »rausgehauen«, bei ihm aber würde kein GG ohne eine gewisse Reifung angeboten. Für Nina Mann, Sommelière in Christian Baus Victor’s Fine Dining, hängt alles vom Vertrauen der Gäste zum Sommelier ab. Bei ihr kämen nur fertige Weine auf die Karte, und insofern begrüßt sie die Initiative der Weingüter.
Fazit
Soweit ich es beurteilen kann, ist der Markt reif für solche Weine, und das nicht nur, weil die Qualität der eigentlichen Grand Crus noch einmal deutlicher unterstrichen werden kann. Es geht vor allem auch darum, dass immer weniger Restaurants und auch Endkunden die Möglichkeit haben, größere Mengen an Weinen selbst einzulagern. Darauf müssen sowohl Handel als auch Erzeuger reagieren. Entscheidend wird sein, wie die längere Lagerung, wo sie auch immer stattfindet, finanziert wird und wie die Weine kalkuliert werden. Natürlich gibt es dann einen Preisaufschlag; denn die Weine sind ja zunächst einmal gebundenes Kapital. Es scheint dazu verschiedene Ansichten zu geben. Ob das Modell, bei dem der Händler die Weine schon per Subskription vorfinanzieren soll, die Zukunft ist, wage ich zu bezweifeln, zumindest höre ich aus dem Handel dazu wenig Begeisterung. Ein angemessener Preisaufschlag bei Veröffentlichung
scheint mir da sinnvoller zu sein. Dass bei den Top-Weingütern immer lauter über Late Release gesprochen wird, ist jedenfalls deutlich zu vernehmen. Und damit kommt den Weinen im Top-Segment auch eine neue Wertigkeit zu. Der Markt für gereifte Weine ist jedenfalls vorhanden. Bettina Bürklin von Guradze meinte, sie müsse aufpassen, dass ihr Museum mit gereiften Jahrgängen nicht in Kürze ausverkauft sei. Und auch für Weinhändler Thomas Kierdorf ist klar, dass es immer schwieriger werde, an gereifte Jahrgänge heranzukommen, die Nachfrage werde immer größer. Joel Payne, Moderator des Abends im September 2017, sagte abschließend: »Der Late-Release-Gedanke breitet sich aus. Jede Idee braucht eine kritische Masse, und bezüglich Late Release ist man in Deutschland nicht weit davon entfernt.« Wenn es so ist, dann wird man auch die Premiere der Großen Gewächse beim VDP noch einmal überdenken müssen; denn der bisherige Termin Ende August scheint mir für diese Weine einfach zu früh zu liegen. Auch wird man meiner Meinung nach die Einteilung in Erste und Große Gewächse noch einmal verändern müssen, um mehr Klarheit in den Markt zu bringen. Es gibt die Grand-Cru-Lagen in Deutschland. Doch es sind viel weniger, als suggeriert wird. Das deutlich zu machen ist eine wichtige Zukunftsaufgabe für den VDP und auch für die deutsche Weingesetzgebung, die diese Aufgabe eigentlich in Angriff nehmen müsste. Die Late Releases sind dabei ein wichtiger Aspekt, wenn die Großen Gewächse tatsächlich erwachsen und groß werden sollen. Die ersten Late Releases, die auf dem Markt sind, haben deutlich von diesem Plus an Zeit profitiert, soviel steht für mich schon fest.
Das gefällt mir hier, eine gut dosierte Zusammenfassung, mit einer bedachten Sichtweise des Autors, die zu weiteren Überlegungen anregt.
2. Absatz, ungefähr in der Mitte:
“Im Juli 2011 wurde diese Klassifizierung als Drei-Stufen-Modell verabschiedet.”
Müsste es nicht 2001 lauten? Gegebenenfalls auch 2002, was nachzuprüfen wäre – nur 2011 scheint mir unmöglich.
Mit besten Grüßen
Michael Holzinger
vielen Dank für das positive Feedback. Tatsächlich gab es einen Fehler: 2011 wurde für die Weine ab 2012 ein Vier-Stufen-modell beschlossen, ich hatte Drei-Stufen-Modell geschrieben. Seitdem gilt Gutswein, Ortswein, Erste Lage, Große Lage.
viele Grüße
Christoph Raffelt